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Gabriel gibt mir ein Mäppchen. Es enthält zwei Dokumente. Das eine ist mein Personalausweis, ausgestellt auf Stella Engel, geboren am 05.01.1991 in Bochum. Ich bin begeistert wie gut das Lichtbild getroffen ist. Meine Begeisterung steigt fast ins Unermessliche, als ich das zweite Dokument sehe. Es ist ein brandneuer Motorradführerschein. Er ist selbstverständlich auch auf Stella Engel ausgestellt und trägt als Ausstellungsdatum den 26. April 2012. Während ich meine neuen Papiere betrachte, beobachtet mich Gabriel wohlwollend aber ohne jede Spur von Herablassung. Das kenne ich bisher überhaupt nicht. Ich stecke das Mäppchen in die große Brusttasche der schwarzen Lederjacke, die ich trage.

"Stella, einen so sprachbegabten Engel haben wir bislang noch nie im Schutzengelseminar gehabt. Du hast so schnell wie niemand zuvor alle Tier- und Menschensprachen gelernt." 
"Dafür hattet ihr aber auch noch niemanden im Schutzengelseminar, der ein derart chaotisches Profil entwickelt hat.“

Dass Gabriel meinen Gedanken folgen kann, weiß ich. Aber ich wundere mich, dass er überhaupt auf mich reagiert und in herzlichem Ton sagt: 
"Öfter was Neues. Mir wurde es schon etwas langweilig mit den Juppyenglen.“

Damit ich mich leicht daran gewöhne, hat Gabriel bisher nach Menschenart mit mir gesprochen. Damit ich aber an Leib und Geist erfahre, dass ich selbstverständlich immer noch ein Engel bin, zeigt er mir die Einzelheiten meines Schutzauftrags in der Art, wie wir Engel kommunizieren. Unsere Verständigung ist eine blitzschnelle Gedankenübertragung. Auf diese Weise zeigt mir Gabriel jetzt im Bruchteil einer Sekunde, wen ich zu beschützen habe, und was sie erlebt hat. Es ist nicht wie in einem Film, in dem man nur hört und sieht, was geschieht.

Ich sehe und höre nicht nur, was Magdalena Zindler, die ich beschützen und deren Leben ich neu ordnen soll, erlebt hat. Ich fühle auch, wie sie den Unfall erlebt und überlebt hat, den sie vor 40 Jahren hatte, bei dem sie ihr Augenlicht verloren hat. Ich schmecke die Medizin, die sie für ihren Magen bekommen hat, um ihn von den Nebenwirkungen der anderen Medikamente zu heilen. Ich nehme daran teil, wie sie Punktschrift lernt. Und ich spüre, wie sie den Kontakt zu ihren Mitmenschen, den Tieren und den Dingen ihrer Umgebung erlebt hat.

In der Ausbildung zum Schutzengel habe ich gelernt, dass das Erleben dessen, was Schutzbefohlene erlebt haben, nicht nur unserer Information dient. Jede Träne, jedes Lachen, jeder Zweifel, jede Hoffnung, einfach alles Erlebte geht auf den Schutzengel über und in ihn hinein. So kann jedes Erleben bei Bedarf wieder zurückgegeben und aktiviert werden. Oder man kann als Schutzengel den Menschen selbst oder seine Mitmenschen mit dem Erlebten konfrontieren.

Gabriel zeigt mir natürlich auch einen Teil dessen, was in der nächsten Zeit geschehen wird. Aber davon berichte ich später, wenn es an der Menschenzeit dafür ist.

Magdalena ist 45 Jahre alt, so groß wie ich, hat schwarzes Haar und blaue Augen. Sie arbeitet als Übersetzerin für deutsch, russisch, spanisch und englisch. Sie ist ledig und hat keine Kinder. Sie ist Russlanddeutsche und lebte in den ersten fünf Jahren bei ihrer Mutter, die bei dem Unfall, durch den sie erblindete, starb. Danach nahm ihre Tante Nadeshda sie bei sich auf. Sie lebt inzwischen zusammen mit ihrer Freundin Lea Hafenmeister in einem kleinen Haus, das sie von Olesja geerbt hat.

Nachdem ich alles, was ich über Magdalena wissen muss, erfahren habe, zeigt mir Gabriel meine eigenen Lebensumstände auf Erden. Ich werde in einer Wohngemeinschaft mit einem anderen Engel in Menschengestalt leben. Sie heißt Raela Liebmann ist als Mensch fünf Jahre älter als ich und arbeitet als Krankenschwester. So weit so gut. Aber ich wundere mich doch sehr darüber, dass ich meine Brötchen als Mensch bei einem Esoterikportal verdienen soll. Nachdem mir Gabriel alles Wesentliche gezeigt hat, lässt er eine Pause entstehen, damit ich mich sammeln kann.

Dann fragt er mich: 
"Hast du noch Fragen, Stella?" "

„Ja, ich habe eine Frage, Herr und Meister!"

"Stella, ich heiße Gabriel“, erwidert mein neuer Vorgesetzter freundlich. 
"Ja, ich habe eine Frage, Gabriel.“

"Na, geht doch!"

Der Erzengel sieht mich an und nickt mir zu. Und dabei leuchten seine Augen und sein Heiligenschein besonders freundlich.

"Warum soll ich ausgerechnet in einem dieser Esoterikportale arbeiten?" 
"Dafür gibt es verschiedene Gründe. Durch diese Arbeit kommst du direkt in Magdalenas Umfeld. Denn dieser Bendix Krämer, der das Portal leitet, ist, wie du gesehen hast, ein Bekannter von Magdalena. Dazu kommt, dass entschieden wurde, diese Szene vom Himmel aus freundlich aber bestimmt ein wenig aufzumischen. Ich bin mir sicher, dass dir der eine oder andere Streich für diese Leute einfallen wird."

Und dann sehe ich etwas, was ich noch nie gesehen habe, und was man auch als Engel sicherlich äußerst selten zu Gesicht bekommt. Auf Gabriels Antlitz zeigt sich ein verschmitztes Lächeln. Obwohl der Schalk in diesem Lächeln deutlich aufleuchtet, sind in diesem Ausdruck keine Spuren von Bosheit oder Schadenfreude zu erkennen. Nur ein kleiner triumphierender Funke und eine Art verspielter Freude leuchtet in seinen Augen auf.

Schließlich fragt Gabriel: "Möchtest du sonst noch etwas wissen, Stella?" 
Ich schüttele den Kopf.

"Dann ist es gut! Und denk immer daran, dass du dich jeder Zeit und von überall mit deiner Gedankenkraft an mich wenden kannst." 
Ich nicke dem Führer der Cherubim und Seraphinen dankbar und herzlich an.

Nachdem ich Gabriels Arbeitszimmer verlassen habe, gehe ich zur großen Halle, in der wir verabschiedet und nacheinander zu unseren Erdeinsätzen entsendet werden. Und jetzt wird mir langsam doch mulmig ums Herz.

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