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Das Personalgespräch

Bereits in Menschengestalt warte ich geduldig vor Gabriels Arbeitszimmer. Noch bin ich überhaupt nicht aufgeregt, obwohl ich natürlich weiß, dass mir jetzt die offizielle Verabschiedung und die Erteilung meines ersten Auftrags bevorsteht. Als Mensch bin ich weiblich, rothaarig, habe grüne katzenartige Augen, einige wenige Sommersprossen, bin 1,80 m groß, schlank und sehe aus wie 20. Im Großen und Ganzen bin ich mit meiner menschlichen Gestalt sehr zufrieden. Und auf den heiligen Schein kann ich gut und gern verzichten. Was ich allerdings jetzt schon schmerzlich vermisse, sind meine Flügel. Das ist der einzige Makel, den es hat, wenn man als Schutzengel anfängt. Man bekommt alle Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Schutzengels aber man verliert zunächst die Flugerlaubnis und kann sich nicht wie sonst selbstständig beflügeln.

Dann geht die Tür von Gabriels Arbeitszimmer auf und gleich wieder zu. Das bedeutet, dass ich noch ein bisschen warten muss. Das stört mich nicht. Was mich aber nervt, ist, dass ich plötzlich bemerke, wie mich jemand skeptisch anstarrt. Ich sehe mich um und sehe in das Gesicht eines anderen Engels in Menschengestalt. Sie ist blond und etwa in meinem Alter. Sie hat blaue Augen, ist 1,70 m groß, und sie trägt sehr exklusive Menschenkleidung. Ich erkenne sie nicht. Aber sie war bestimmt in meinem Kurs zur Vorbereitung für Schutzengel. In der Vorbereitungsphase auf unsere Umwandlung zu Menschen und für den Erdeinsatz waren wir 24 Engel. Aber wir haben einander nie in Menschengestalt gesehen, obwohl es in diesem Unterricht auch darum geht, ein menschliches Profil zu entwickeln. Damit wir unter den Menschen nicht auffallen, dürfen wir in unserer Ausbildungszeit alles ausprobieren, was Menschen tun. Wir dürfen wirklich alles testen, aber wir sehen einander zum ersten Mal bei der offiziellen Verabschiedung in unserer Menschengestalt. Darum erkenne ich mein Gegenüber erst, als sie mich anspricht: Dass sie mich erkennt, liegt sicherlich daran, dass ich in ihren Augen verrückt aussehe. Für verrückt und ausgeflippt haben mich die anderen Auszubildenden während des gesamten Seminars gehalten.

„Übrigens, Derila, du bist die Letzte!" Sagt sie mit einem schadenfrohen Ton in der Stimme. Sie haben mir den Spitznamen Derila, die Verrückte oder Spinnerin, verpasst, weil das menschliche Profil, das ich entwickelt habe, sehr widersprüchlich und chaotisch ist. Ich fahre Motorrad, habe den schwarzen Gürtel in Karate, mache aber auch Qi Gong, Stricke gut und leidenschaftlich gern, liebe Rockmusik und starke Frauenstimmen wie Giana Nanini und Tina Turner, skate, knüpfe und koche gern. Und ich mag scharfe Sachen aus aller Herren Länder. Lesen und schreiben machen mir Spaß und inspirieren mich genauso wie lange Spaziergänge bei jedem Wetter.

„Macht doch gar nichts, dass ich die Letzte bin. Es heißt ja, die Letzten werden die Ersten sein“, erwidere ich und lächele sie verschmitzt an.

Ich merke, dass sich mein Gegenüber über meine Gelassenheit ärgert. Sie aber nicht daran wegzugehen, sondern redet einfach weiter.

"Ich bin wirklich gespannt, was sie dir aufbrummen." Das möchte ich auch gern wissen, aber ich habe immer noch keine Angst, dass mir ein Auftrag erteilt wird, der nicht zu mir passt."

„Du wirst nicht glauben, wie ich jetzt heiße, und was mein erster Auftrag ist." Mir fällt auf, dass sie furchtbar nörgelt.

„Ich heiße ab jetzt Dorothea Glück. Und ich komme als Kindermädchen in einen sehr wohlhabenden Haushalt mit drei Kindern. Die Mutter wird sterben und zumindest zwei von den Kindern sind sehr verwöhnt. - Gleich am Anfang mehrere Kinder!"

Sie schluckt. Um sie aufzumuntern und zu ermutigen, sage ich: „Du hast Zeit alles in Ordnung zu bringen, zum Beispiel, weil die Frau nicht gleich sterben wird. Und im Grunde passt dieser Auftrag sehr gut zu dir und deinem exklusiven Geschmack."

Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht will sie sich von mir einfach nicht ermutigen lassen und hat nur Lust zu jammern. Jedenfalls wendet sie sich ab und murmelt: "Man sieht sich bei der offiziellen Verabschiedung.“

Dann stolziert sie davon.

Einen Augenblick später öffnet sich die Tür zu Gabriels Arbeitszimmer wieder, und ich darf eintreten. 
 "Sei herzlich gegrüßt, Herr und Meister“, sage ich, als ich eintrete und mache einen Knicks.

"Sei auch ganz herzlich gegrüßt, Stella Engel. Ich heiße Gabriel und nicht Herr und Meister!" Erwidert Gabriel mit seiner tiefen, freundlichen Stimme. 
 "Sei herzlich gegrüßt, Gabriel!"

"Na, geht doch!" 
 Ich frage mich, ob ich jemals wirklich begreifen werde, dass eine gesunde Hierarchie keine Förmlichkeiten braucht. In dieser Hinsicht habe ich wohl einen richtigen Schaden genommen durch meinen ersten Vorgesetzten. Seinen Namen habe ich nie erfahren, Weiler von Anfang an auf der Anrede "Herr und Meister" bestand.

Bevor ich zum Schutzengel ausgebildet wurde, war ich ein Seelenbegleiter. Meine Aufgabe war es die Seelen Verstorbener auf dem Weg zu Gott zu begleiten. Das ist auch eine wichtige und schöne Aufgabe, die ich getan habe seit es Menschen auf der Erde gibt. Eine Seele wird immer von zwei Engeln bei diesem Weg begleitet. Es ist wichtig, dass jede Seele diesen Weg in die Ewigkeit geht, diesen Weg selbst zurücklegt aber dabei an jeder Seite von einem Engel geschützt wird. Es heißt nicht umsonst, dass die Seele zu Fuß geht. Und für die Ewigkeit, in die die Seele eingeht, ist zu Fuß gehen genau die geeignete Geschwindigkeit. Und weil es viele geschundene Seelen gibt, sind zwei Engel zum Trost und als Helfer dabei.

Ich habe in meiner Zeit als Seelenführer sehr viele Seelen begleitet, denen es nicht vergönnt war, sich in Ruhe und Frieden von ihrem irdischen Sein verabschieden zu können. Es war eine befriedigende Aufgabe, die mir viel Erfüllung bereitet hat. Aber jedes Wesen braucht auch einmal eine andere Arbeit. Und mein Vorgesetzter war das, was man auf Erden wohl einen Stinkstiefel nennt. Er soll übrigens degradiert und versetzt worden sein. Ich bin wirklich erleichtert, dass Gabriel Geduld mit mir hat, was mein Problem mit Vorgesetzten angeht.

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